Ich kann es langsam nicht mehr hören. Alle Welt spricht nur noch über positives Mindset und Glaubenssätze. Und dass man sie umprogrammieren oder auflösen kann. „Programmier dein Mindset auf Erfolg“ oder „Löse hinderliche Glaubenssätze auf“. Negative Glaubenssätze werden durch positive ersetzt und dann heißt es: „Let the magic happen“. Nur leider passiert in vielen Fällen keine Magic. Oder sie passiert ganz am Anfang und lässt dann recht bald wieder nach.

Ich weiß, dass ich mit diesem Artikel triggern werde. All jene, die positive Erfahrungen mit Mindset-Arbeit gemacht haben und auch die, die es selbst anbieten und davon überzeugt sind, dass es DER Schlüssel zum Erfolg ist. Aus meiner Sicht ist das EIN Weg von vielen, der wesentliche andere Aspekte (nämlich Körper und Gefühle) meistens außen vor lässt. In diesem Artikel erfährst du sechs wichtige Bereiche, in denen Mindset-Arbeit an ihre Grenzen stößt bzw. sogar negative Auswirkungen haben kann. Außerdem erkläre ich, warum es so wirkungsvoll ist, Körper und Gefühle mit ins Boot zu holen.

Positives Mindset vereinfacht oft komplexe Probleme

Der herkömmliche Mindset-Ansatz neigt dazu, komplexe Lebensprobleme auf positive Gedanken und Glaubenssätze zu reduzieren. Man ergründet, was man über sich oder eine bestimmte Situation denkt und wandelt dies ins (positive) Gegenteil um. Viele unserer Probleme haben jedoch ihren Ursprung in unbewussten Überzeugungen, die oft so tief liegen, dass wir sie nicht gedanklich erfassen können. Wenn ich aus einem oberflächlichen negativen Glaubenssatz einen positiven mache, dann ist das, wie wenn ich jedes Mal eine Kopfschmerz-Tablette gegen Verspannungen nehme, ohne die eigentlich Ursache der Verspannung zu ergründen und zu lösen. Die meisten Probleme sind sehr komplex und vielschichtig. Und wie oben schon erwähnt, kann Mindset-Arbeit EIN Weg von vielen sein, sich der Lösung zu nähern. Allerdings hab ich es noch nie erlebt, dass es DIE Lösung für tieferliegende emotionale oder soziale Herausforderungen war.

Toxic positivity – die Bagatellisierung von Leiden

Wenn die Lösung all meiner Probleme ein positives Mindset ist, dann ist diese Lösung sehr einfach. Tatsächlich sind viele Menschen davon überzeugt, dass es genauso ist. Bzw. wollen die meisten Menschen eine schnelle Lösung und freuen sich, wenn sie ihnen von jemandem angeboten wird.
Was aber gleichzeitig passiert, wenn alles durch ein positives Mindset gelöst werden kann: die Schwierigkeiten oder das Leiden, das die Menschen gerade durchleben, werden bagatellisiert. Kleiner gemacht, als sie eigentlich sind. Außerdem lädt es dazu ein, die Gefühle und Empfindungen, die dieses Leiden auslöst, zu ignorieren und wegzuwischen. Toxic positivity oder zu deutsch toxische Positivität ist der Begriff, der in diesem Zusammenhang gerade immer häufiger genannt wird. Die Menschen belügen sich selbst und tun so, als ob alles in Ordnung wäre, obwohl es das ganz und gar nicht ist.
Wenn ich merke, dass ich vor etwas Angst habe, ist es natürlich sehr einfach, wenn ich mir ein positives Sätzchen überlege, das ich meiner Angst entgegenstelle. Viel einfacher, als dass ich die Angst fühle und schaue, wo sie herkommt, dass ich spüre, was sie körperlich in mir auslöst und dann eine Lösung suche. Aber die Unterdrückung von anwesenden Gefühlen und Empfindungen hat weitreichende Folgen, doch dazu später mehr.

Äußere Einflüsse versus positivem Mindset

Manchmal sind Situationen einfach beschissen. Und dabei ist es erstmal zweitrangig, ob ich dazu aktiv beigetragen habe oder ob das Leben mir gerade Steine vor die Füße wirft. Angenommen, du bist wirtschaftlich gerade in einer prekären Situation. Das Auto geht ein, die Waschmaschine auch und ein Auftrag, der viel Geld gebracht hätte, fällt plötzlich weg. Natürlich hilft es dir nicht, wenn du dich jetzt ins Opferdasein verkriechst, böse aufs Leben bist und dich fragst, womit du das nur verdient hast. Aber es hilft dir vermutlich auch nicht, wenn du all deine Ängste und schlechten Gefühle, die in so einer Situation an die Oberfläche kommen, mit positiven Sätzen beschießt.
Denn das Potential für Veränderung entsteht durch Akzeptanz. Und echte Akzeptanz bedeutet, dass ich im Moment präsent bin und fühle, was es zu fühlen gibt und spüre, was es zu spüren gibt. Du musst nicht drin baden, aber du darfst es ehrlich wahrnehmen. Und wenn du ehrlich hinschaust, dann kannst du dich fragen, wo du eigentlich hinwillst. Ich bin eine große Freundin von Intentionen. Ja, auch das sind positive Sätze, aber sie sind nicht das formulierte Gegenteil von deinem Ist-Zustand, sondern sie beschreiben deinen verkörperten Wunsch-Zustand. Lies gerne mehr dazu in diesem Artikel: Ein Wunder kommt selten allein – mein liebstes Rauhnacht-Ritual. Einmal im Jahr widme ich mich ganz ausführlich meiner Intentionsarbeit. Und die hat wesentlich weniger mit Mindset zu tun, als du auf den ersten Blick glaubst.
So, aber nochmal zurück. Äußere Umstände und Einflüsse zu ignorieren und einfach positiv zu denken, schränkt deinen Handlungsspielraum extrem ein. Denn erst, wenn du ehrlich hinschaust und siehst, was Sache ist (und das dann eben auch akzeptierst), hast du eine Möglichkeit, zu verändern. Fährst du da gleich mit positiven Sätzen drüber, kannst du das Potential, das in solchen Situationen steckt, oft gar nicht erkennen.

Zu kurz (positiv) gedacht – wenn die Ursache tiefer liegt

Ich glaube schon, dass positives Denken und generell eine optimistische Einstellung ihre Vorteile haben. Wenn es jedoch um ernsthafte Herausforderungen und Probleme im Leben geht, dann ist das oft zu kurz gegriffen. Denn tiefsitzender Schmerz, Traumata oder psychische Erkrankungen jeglicher Art, lassen sich nun mal nicht mit positivem Denken heilen. Im Gegenteil. Es verschlimmert oft das Leiden, denn es führt dazu, dass die Schwere des Problems über lange Zeit ignoriert wird und die Menschen sich nicht rechtzeitig professionelle (und ganzheitliche) Unterstützung suchen.
Der Ansatz der Mindset-Arbeit basiert ja darauf, dass unsere Überzeugungen unser Verhalten und unser Gefühlsleben beeinflussen. Wenn wir also unsere Überzeugungen ändern, können wir somit unser Verhalten und unser Gefühlsleben verändern. Soweit, so logisch. Das Problem ist nur, dass nur ca. 5% unseres Denkens bewusst ist. Die restlichen 95% laufen unbewusst ab. Und selbst wenn es Techniken gibt, mit denen man unbewusste Gedanken an die Oberfläche holen kann, so ist auch das nur eine von 3 Ebenen in unserem System. Denn es gibt noch Gefühle und Körperempfindungen. Und genauso, wie es Überzeugungen in unseren Gedanken geben kann, gibt es Prägungen in unserem restlichen System (z.B. Körpergedächtnis). Die sind in den allermeisten Fällen komplett unbewusst.
Bei schwerwiegenden Herausforderungen und Problemen sind es meist nicht unsere Gedanken, die unseren Leidensdruck verursachen. Diese Gedanken sind vielmehr eine Folge von Gefühlen und Körperempfindungen. Aus meiner Sicht ist es also viel sinnvoller, genau dort anzusetzen und sich von der Tiefe an die Oberfläche zu arbeiten, als umgekehrt. Wie genau das geht, das kann ich schwer in Worte fassen. Wenns dich interessiert, dann lass uns gerne sprechen und ich kann es dir in einer kurzen Übung demonstrieren. HIER kannst du dir ein 30-minütiges Kennenlernen mit mir buchen.

Ich bin ja selbst schuld – ich hatte ja kein positives Mindset

Das ist für mich einer der schwerwiegendsten Punkte in dieser Auflistung. Denn die Mindset-Arbeit signalisiert, dass wir alles mit einem positiven Mindset lösen können. Wenn wir also mit Problemen in unserem Leben konfrontiert sind, dann hatten wir wohl nicht genug positives Mindset. Wir sind also selbst schuld an unserer Misere. Berücksichtigen wir die ganzen vorherigen Punkte dieses Blogartikels, dann könnte ein Leidensweg folgendermaßen aussehen:
Mir geht es nicht gut. Ich fühle mich minderwertig und traue mich nicht, bestimmte Schritte in meinem Leben zu gehen. Ich beginne, mir ein positives Mindset zuzulegen. Jeden Tag beobachte ich meine Gedanken und immer, wenn ich schlecht über mich denke, ersetze ich diesen Gedanken durch einen positiven. Mein Mantra: „Ich bin wertvoll. Ich bin mutig. Ich gehe erfolgreich meinen Weg.“ Am Anfang funktioniert es richtig gut. Ich bin besser gelaunt, die Menschen um mich herum verhalten sich plötzlich anders. Ich habe einige erfolgreiche Situationen. Juhu, es funktioniert.
Doch plötzlich ist von einem Tag auf den anderen wieder alles anders. Ein wichtiger Termin geht voll in die Hose und mir geht es schlecht. Schlechter als je zuvor. Ich ergründe die Ursache. Vielleicht stimmt etwas in meinem Mindset nicht. Ich muss wieder mehr positiv denken. Vielleicht hab ich ja nicht oft genug positiv gedacht. Oder nicht die richtigen Sätze verwendet. Nach einigen Wochen bemerke ich, dass ich müde bin. Ich habe immer häufiger Kopfschmerzen und bin erschöpft. Mein neues Mantra: „Ich fühle mich wohl, bin gesund und voller Energie und Tatendrang.“ Doch mein Zustand wird immer schlimmer. Irgendwann kommen die ersten Gedanken: Vielleicht kann ich das einfach nicht. Vielleicht bin ich einfach generell unfähig. Ich habe versagt. Offensichtlich bin ich minderwertig und nicht fähig zu dem, was ich mir wünsche.

Ja, vielleicht klingt das plakativ und unrealistisch. Aber du glaubst nicht, wie viele Menschen mir gegenübersitzen, die glauben, dass etwas falsch mit ihnen ist, weil sie es einfach nicht schaffen, ihre Herausforderungen und Probleme zu lösen. Nicht wenige von ihnen haben es auch mit Mindset-Arbeit probiert und sind im besten Fall zu der Überzeugung gelangt: Das funktioniert für mich nicht.

Der Körper sucht sich seinen Weg

Der Körper lässt sich nicht belügen. Er findet immer einen Weg, seine momentane Realität auszudrücken. Und der Körper ist stärker als der Verstand. Das wird ganz deutlich, wenn du schon mal versucht hast, dich gedanklich von Schmerzen abzulenken. Es ist nicht möglich.
Wenn du also begonnen hast, deine Gedanken (Glaubenssätze) umzuprogrammieren und irgendwann davon überzeugt bist, dass alles gelöst ist, dann kann es sein, dass dein Körper mit seltsamen Symptomen beginnt. Die Ärzte finden nichts, offiziell ist alles in Ordnung. Und trotzdem geht es dir schlecht. Irgendwann wirst du vermutlich mit dem Begriff „Psychosomatik“ konfrontiert sein. Ein Zustand, bei dem der Körper psychische Spannungen ausdrückt und in (oft unerklärliche) Symptome verwandelt. Dieses Phänomen erlebe ich vielfach bei Menschen, die der Meinung sind, dass bei ihnen emotional alles in Ordnung ist. Doch es ist nur oberflächlich alles in Ordnung. In der Tiefe tummeln sich unterdrückte Gefühle, die jetzt durch körperliche Symptome in die Sichtbarkeit drängen.

Ein weiterer wichtiger Punkt: Unser System lässt sich nicht gerne verarschen. Ich mach wieder ein Beispiel:
Mein System (Körper, Gefühle, Verstand) kommuniziert mit mir und sagt „Ich bin müde, ich kann nicht mehr, ich bin traurig und verzweifelt.“ Meine Reaktion darauf ist positives Mindset: „Ich fühle mich fit, ich habe Energie, ich bin glücklich und zufrieden.“ Das ist, wie wenn man einem Menschen, der gerade Schmerzen hat, sagt: „Du hast keine Schmerzen, das bildest du dir ein!“ Dieser Mensch wird entweder mit Unsicherheit oder mit Wut reagieren. Genauso ist es in unserem System auch. Entweder reagiert es mit Unsicherheit und dir geht im Laufe der Zeit jegliches Körpergefühl (und damit das Gefühl, was für dich gerade gut und richtig ist) verloren. Oder es reagiert mit Widerstand und fährt mit Symptomen auf, die deinen realen Zustand noch verstärken, auf dass du es endlich ehrlich wahrnimmst.

Ehrlich hinschauen und fühlen, was da ist

Was ist die Alternative?

  • Ehrlich hinschauen und fühlen, was da ist.
  • Ein Thema, eine Herausforderung oder ein Problem in seiner Komplexität anerkennen und akzeptieren, dass es vielleicht nicht sofort eine Lösung gibt.
  • Die Realität anerkennen und nach Lösungen suchen.
  • Die Ursache erforschen, warum du in dieser Situation gelandet bist (und das kann sehr tief gehen und therapeutische Hilfe erfordern).
  • Entscheidungen treffen, die vielleicht unbequem sind, um aus deiner jetzigen Situation rauszukommen.
  • Fühlen, wo du hinwillst.
  • Immer alle 3 Ebenen mitnehmen: Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen
  • Dir Unterstützung holen.

Gefühle und Körperempfindungen fühlen sich manchmal an, wie wilde, gefährliche Tiere, die seit Wochen nichts zu Essen bekommen haben. Das liegt vor allem daran, dass sie seit Ewigkeiten (in unserer heutigen Zeit zu unrecht) als gefährlich gelten. Gefühle wollen gefühlt werden. Körperempfindungen wollen empfunden werden.
Dieser Versuch, alles über den Verstand zu regeln ist eine kollektive Trauma-Reaktion. Denn der Verstand springt immer ein, wenn es keine Lösung mehr gibt und sucht nach Lösungen. Viele Jahre lang war es schlichtweg nicht möglich, die Gefühle zu fühlen, weil sie zu viel waren. Sie hätten die Menschen überfordert. Krieg, Flucht, Übergriffigkeiten, Vernachlässigung etc. sind keine Zustände, die man einfach so mal fühlen kann. Das hätte die Menschen damals umgebracht. Deshalb haben sie sich (aus Selbstschutz) zum Nicht-Fühlen entschieden.

Wir leben heute in anderen Zeiten. Natürlich gibt es immer noch Menschen, die so traumatische Dinge erleben und erlebt haben, dass sie nicht so einfach mal gefühlt werden können. Dann braucht es Unterstützung. Doch in vielen Fällen leben wir einfach das Erbe unserer Vorgenerationen weiter. Und weil Gefühle und Körperempfindungen immer gefährlich waren, sind sie es auch heute noch. Und immer, wenn etwas unlösbar erscheint, springt der Verstand ein. Dann ist es logisch, dass eine ganze Gesellschaft versucht, über das Denken das Leben zu regeln. Es wird nur auf Dauer nicht funktionieren.

Ich wünsche mir, dass die Beschäftigung und der Umgang mit Gefühlen und Körperempfindungen genauso normal wird wie positives Mindset. Denn nur, wenn alle drei Ebenen Aufmerksamkeit bekommen, werden wir heilen. Auch als Gesellschaft!

Generose Sehr

Sängerin und Spezialistin für den emotionalen Deep Shit

Ich brenne dafür, Menschen dabei zu unterstützen ihren ureigenen Weg zu finden und echtes Selbst-Bewusst-Sein zu entwickeln – abseits von Gesellschaftsmustern, familiären Prägungen und „das macht man halt so“. Mein Herz schlägt für Visionär*innen und Menschen, die das Gefühl haben, in unserer Gesellschaft fehl am Platz zu sein.
Ich selbst bin Entwicklungsjunkie und süchtig nach neuem Wissen und neuen Erfahrungen. Das hat dazu geführt, dass ich nach meinem Studium in Gesangspädagogik noch eine Ausbildung in Craniosaraler Körperarbeit und den Epigenetik Coach angehängt habe und da stehen noch ein paar mehr Dinge auf meiner Liste.
Ich schreibe hier über transgenerationale Vererbung, frühkindliche und pränatale Prägungen und wie sich das auf unser Leben auswirkt. Außerdem erzähle ich gerne meine eigenen Geschichten (oder die meiner Klient*innen), um zu zeigen, wie wir den alltäglichen Herausforderungen des Lebens begegnen können.

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