Verhaltensmuster (vor allem ungeliebte oder hinderliche) sind immer eine höchst komplexe Angelegenheit. Selbstaufopferung zählt zu einem dieser Verhaltensmuster und ist – wie du dir wahrscheinlich schon denken kannst – auch dem People Pleasing zuzuordnen. Wir haben es hier mit dem Typ „Der / die Märtyrer:in“ zu tun (HIER kannst du mehr darüber lesen und bekommst auch Infos zu den anderen Typen). In diesem Blogartikel schreibe ich, dass es vor allem der Wunsch nach Anerkennung und Liebe ist, der die Menschen in die Selbstaufopferung treibt, aber es gibt noch einige andere Hintergründe, die ich nun hier ausführlicher beleuchten möchte.

Wie es der Titel schon sagt, schreibe ich diesen Artikel vor allem durch die Brille der transgenerationalen Weitergabe. Meiner Erfahrung nach finden sich diese Verhaltensmuster jedoch immer auf verschiedenen Ebenen. Die Vererbung über die Generationen hinweg ist nur EIN Baustein von vielen. Genau hier ist natürlich auch ein guter Ansatzpunkt für Kritiker:innen, denn woher kann ich mit Sicherheit sagen, dass ein Muster transgenerational vererbt ist und nicht einfach „nur“ durch die Sozialisierung und Erziehung bzw. durch Nachahmung im Elternhaus entstanden ist?
Meine Meinung: Pauschal lässt sich das sowieso nie sagen. Aber damit steige ich gleich in den ersten Teil des Artikels ein.

Vererbung oder Erziehung?

Das ist sicher eine der häufigsten Fragen, die mir in Bezug auf transgenerationale Weitergabe gestellt werden: Wie erkenne ich, ob es sich um eine Vererbung handelt bzw. was unterscheidet hier Vererbung von Erziehung? Die enttäuschende Antwort ist: auf den ersten Blick kann man das nie sagen. Bzw. in vielen Fällen ist es einfach beides. Die Beweismöglichkeiten halten sich hier in Grenzen. Es bleibt also nichts anderes übrig, als bei jedem Menschen individuell zu schauen.
Zwei wichtige Hinweise gibt es, in denen eine Vererbung besonders wahrscheinlich ist:

  • wenn das Verhalten das Überleben eines Vorfahren gesichert hat bzw. wenn das Gegenteil bei einem Angehörigen zum Tod geführt hat
  • wenn das Verhalten in Zusammenhang mit einer tabuisierten Geschichte steht, über die nie gesprochen wurde

Weil die Frage, wie ich eine transgenerationale Weitergabe erkennen kann, so häufig gestellt wird, habe ich ihr bereits einen ganzen Blogartikel gewidmet: Transgenerationale Weitergabe – wie erkenne ich ein vererbtes Trauma?

Wie schon gesagt: die allermeisten Verhaltensweisen, die wir an den Tag legen, (so auch die Selbstaufopferung) sind eine Mischung aus Erziehung, frühkindlicher Prägung, Sozialisierung und Vererbung. Trotzdem lohnt es sich, den Fokus einmal auf das Feld der transgenerationalen Weitergabe zu legen.

Emotionale Hintergründe für Selbstaufopferung

Selbstaufopferung oder People Pleasing im Allgemeinen ist ein hochgradig ungesundes Verhalten, das über kurz oder lang sogar zu körperlichen Symptomen führen kann. Doch jedes ungesunde Verhalten hat immer einen Grund, der meist auf der emotionalen Ebene zu suchen ist. Die 5 häufigsten Gründe, warum Menschen in die Selbstaufopferung gehen sind:

  1. Angst vor Ablehnung und Konflikten: es fühlt sich gefährlich an, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu äußern, weil das die Bindung gefährden könnte.
  2. Geringes Selbstwertgefühl: wer sich weniger wert fühlt als andere, stellt automatisch die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurück und versucht, den eigenen Wert zu steigern, indem die Bedürfnisse des Gegenübers erfüllt werden
  3. Das Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung: es herrscht die Überzeugung, nur liebenswert zu sein (oder geliebt zu werden), wenn man anderen hilft und dadurch Anerkennung erhält
  4. Schuldgefühle und Selbstkritik: für sich selbst einstehen löst Schuldgefühle aus und fühlt sich egoistisch an, Selbstaufgabe lindert die Schuldgefühle
  5. Das Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit: es erscheint sicherer und stabiler, sich um die Bedürfnisse der anderen zu kümmern und dadurch Konflikte zu vermeiden

Diese fünf Punkte hängen natürlich alle irgendwie miteinander zusammen. Trotzdem möchte ich sie einzeln behandeln bzw. ganz praktisch mit Beispielen erklären, wo transgenerationale Weitergabe hier eine Rolle spielen kann.

Jetzt wirds konkret: Selbstaufopferung mit Fokus auf transgenerationale Weitergabe

Wie oben schon beschrieben: bei jeden einzelnen dieser Punkte gibt es vielfältige Ursachen, warum sich dieses Verhalten so manifestiert hat, dass es zu einem hinderlichen Muster geworden ist. In vielen Fällen ist diese Ursache in der frühen Kindheit und teilweise sogar schon im Mutterleib zu finden. Diesen Aspekt klammere ich jetzt bewusst aus, vielleicht gibt es dazu einmal einen zweiten Blogartikel. Das heißt, jedes Mal, wenn du dir beim Lesen denkst „Aber das könnte doch auch (…) sein“, hast du vermutlich recht. Wenn du dir nicht sicher bist und gerne eine Meinung von mir dazu hättest, dann schreib mir einfach per Mail an: befreit@generose-sehr.com

Angst vor Ablehnung und Konflikten

Achtung! Ich gehe hier in eine Situation, die möglicherweise triggernd sein kann, wenn du Verbindungen zu Krieg oder im Krieg verstorbenen Menschen hast. Achte gut auf dich und überspringe diesen Teil im Zweifel bitte!
Stell dir einmal vor, du lebst zu früheren Zeiten. Kein Internet. Kein Auto. Kein Telefon. Vielleicht ist gerade Krieg, vielleicht ist Nachkriegs- oder Zwischenkriegszeit. Vielleicht ist die Familie vollständig anwesend, vielleicht sind einzelne Mitglieder noch irgendwo in Gefangenschaft oder verletzt, noch nicht wieder heimgekehrt oder sogar verschwunden. Du lebst in einem kleineren Dorf auf dem Land. Natürlich sorgen alle vorrangig für ihr eigenes Überleben, aber es gibt nur einen Weg, wichtige Informationen fürs weitere Überleben (wo gibts wann Nahrungsmittel, wo sind eventuell gefährliche Menschen gesichtet worden, etc.) zu erhalten: Kontakt mit anderen Menschen.
Und jetzt stell dir vor: Du hast nur wenig Mittel zur Verfügung und bis darauf angewiesen, dass andere dich unterstützen, weil du sonst nicht überleben kannst. Was wäre die Konsequenz, wenn du in der Dorfgemeinschaft nicht akzeptiert bist? Wenn du ausgeschlossen wirst, man dir Dinge verschweigt, weil du dich mit wichtigen Menschen nicht gut gestellt hast oder zur falschen Zeit eine falsche Meinung geäußert hast?
Das war damals lebensgefährlich. Und das ist nur eine von vielen möglichen Situationen. Damals können harmonische Beziehungen überlebenssichernd gewesen sein. Da war es schlichtweg nicht möglich, für die eigene Meinung einzutreten oder für sich selbst einzustehen. Überleben steht über alle anderen Bedürfnissen. Kein Wunder, dass sich dieses Muster dann auf die folgenden Generationen überträgt.

Geringes Selbstwertgefühl

Kinder, die in einem stressigen, unsicheren Umfeld aufwachsen oder sogar mit Missbrauch oder Vernachlässigung konfrontiert sind, entwickeln ein geringes Selbstwertgefühl. Denn Kinder beziehen immer alles auf sich. Wenn sie schlecht behandelt werden, dann suchen sie die Ursache bei sich selbst. Wenn diese Zustände über einen längeren Zeitraum anhalten oder für eine kürzere Zeit sehr intensiv sind, dann können sich verschiedene Überzeugungen manifestieren. Einige kommen (vielleicht in einer milderen Variante) den meisten von uns bekannt vor:

  • Ich bin falsch.
  • Ich bin wertlos.
  • Ich bin nicht liebenswert.
  • Ich bin nicht gut genug.
  • Ich habe kein Recht auf…
  • Ich muss mich anpassen.
  • Nur wenn ich … bin, dann werde ich akzeptiert.
  • usw.

Es kann natürlich sein, dass wir selbst solche Situationen in der Kindheit erlebt haben, die diese Überzeugungen in uns haben reifen lassen. Es kann aber auch sein, dass unsere Eltern oder Großeltern in einer solchen Umgebung aufgewachsen sind (was bei den Herausforderungen der Kriegs- oder Zwischenkriegszeiten sehr wahrscheinlich war). Wenn diese Überzeugungen dann nie hinterfragt werden, wächst die nächste Generation genau damit wieder auf. Genau genommen haben wir es hier dann mit einer Mischform von transgenerationaler Vererbung und der Übertragung durch Nachahmung oder Erziehung zu tun.

Das Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung

Dieser Punkt ähnelt sehr dem vorherigen, denn das Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung geht normalerweise mit einem geringen Selbstwertgefühl einher. Deshalb hier jetzt ein anderer Blick auf die transgenerationale Vererbung, nämlich tatsächlich mal auf körperlicher Ebene.
Anerkennung und Bestätigung aktivieren das Belohnungssystem im Körper. Das führt zu einer erhöhten Freisetzung von Dopamin. Dieser Neurotransmitter führt zu einem Gefühl von Freude und Zufriedenheit im Körper. So kann Anerkennung zu einer Sucht werden.
Doch nicht jeder Mensch reagiert gleich auf die Freisetzung von Dopamin. Auf der einen Seite gibt es angeborene Gen-Varianten, die eine verringerte Empfindung von Dopamin erzeugen und auf der anderen Seite kann das Gen, das für die Dopamin-Rezeptoren zuständig ist, durch epigenetische Mechanismen beeinflusst werden.
Das bedeutet, dass Menschen, deren Dopamin-Rezeptoren weniger empfindlich sind. Dadurch braucht es eine höhere Aktivierung, die zum Beispiel durch verstärkte Anerkennung von außen hervorgerufen werden kann.
Nachdem sich auch epigenetische Mechanismen von Generation zu Generation vererben können, ist das eine mögliche Ursache für ein erhöhtes Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung.

Schuldgefühle und Selbstkritik

Achtung!! Falls du Erfahrungen oder Erlebnisse mit Krieg hast, kann dieser Abschnitt für dich triggernd sein. Schau gut auf dich oder überspring ihn lieber!

Stell dir einmal vor, dein Großvater war im Krieg. Krieg heißt immer: es gibt keine Wahl. Er musste Dinge tun, die er nicht tun wollte, weil es von ihm verlangt wurde. Wenn er es nicht getan hätte, hätte er sich in große Gefahr gebracht. Wenn er es schon getan hat, ebenso. An sich schon eine unglaublich belastende Situation. Jetzt stell dir vor, er war an der Front. Hier gibt es nur zwei Möglichkeiten: schießen oder erschossen werden. Vermutlich haben viele unserer Großväter, die wir noch kennengelernt haben und die tatsächlich an der Front waren, viele viele Menschen erschossen. Denn sonst hätten sie selbst nicht überlebt. Jeder „normale“ Mensch ist nach diesen Erlebnissen schwer traumatisiert und hat in den allermeisten Fällen bewusste oder unbewusste Schuldgefühle.
In den seltensten Fällen wird über diese Erlebnisse und die dazugehörigen Gefühle gesprochen. Und wenn du dich erinnerst, wann etwas besonders stark vererbt wird, dann treffen hier beide Punkte zu: es ging ums Überleben und es ist ein Tabuthema. Es ist also durchaus häufig, dass diese Schuldgefühle so stark sind, dass sie unausgesprochen in die nächste Generation übergehen. Und wieder in die nächste.
Und was passiert mit einem Menschen, der generell das Gefühl hat, Schuld zu sein? Er oder sie wird ein furchtbar miserables Selbstbild haben und versuchen, diese Schuld um jeden Preis wieder gut zu machen. Anderen Menschen Gutes zu tun und ihnen zu helfen ist einer der besten Wege, um sich selbst immer wieder zu beweisen, dass man ja doch nicht so schlecht ist, wie man sich fühlt. Ein sehr logischer und gleichzeitig tragischer Weg in die Selbstaufopferung.

Das Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit

Ich glaube, in unserer Gesellschaft fehlt generell ein Gefühl von innerer Sicherheit. Allein das ist für mich eine der größten kollektiven transgenerationalen Vererbungen. Denn innere Sicherheit entsteht in der frühen Kindheit. Ein Kind orientiert sich mit seinem Nervensystem immer am Nervensystem der Bezugspersonen. Und wenn diese sich nicht sicher fühlen, dann spiegelt sich das in ihrem Nervensystem wieder. Wenn wir jetzt in unsere gesellschaftliche Vergangenheit schauen, dann finden wir da zwei Kriege in recht kurzem Abstand hintereinander. Das heißt, die Mehrheit der Bevölkerung war von Kriegsgeschehen, Angst, Hungersnot, Flucht, unsicherer wirtschaftlicher Lage etc. betroffen. Das alles lässt logischerweise kein stabiles Gefühl von innerer Sicherheit zu.
Wenn wir jetzt also davon ausgehen, dass so ziemlich alle unserer Vorfahren diese Erlebnisse gemacht haben, dann haben so ziemlich alle unsere Eltern dieses unsichere Nervensystem in der Kindheit adaptiert. Vermutlich haben sie sich im Laufe ihres Lebens nicht damit beschäftigt und in diesem Zustand dann eben selbst wieder Kinder bekommen. Wir als Kinder konnten uns also wieder nur an einem hochgefahrenen und alarmierten Nervensystem orientieren.

Ein fehlendes Gefühl von innerer Sicherheit führt aus meiner Erfahrung immer zu einem erhöhten Kontroll-Bedürfnis. Und auch wenn man sich im ersten Moment vielleicht fragt, was das mit People Pleasing zu tun hat, wird es bei näherer Betrachtung doch ganz logisch: wenn wir lernen, die Bedürfnisse der anderen Menschen zu erspüren oder aus 10 km Entfernung zu erkennen, dann können wir mit unserem Verhalten ihr Verhalten beeinflussen. Denn wir können dafür sorgen, dass es ihnen gut geht, sie sich wohl fühlen. Dadurch haben wir das Gefühl, die Kontrolle über das Geschehen zu haben und keiner gröberen Unsicherheit ausgesetzt zu sein. Um ständig die Bedürfnisse der anderen zu erspüren und zu erfüllen, müssen wir mit unserer Aufmerksamkeit immer im Außen sein. Da bleibt kein Raum für den Kontakt zu uns und unseren Bedürfnissen. Das Resultat: Selbstaufopferung.

Der Ausstieg aus der Selbstaufopferung

Der wichtigste Punkt, um aus transgenerationalen Mustern auszusteigen ist: Werde dir bewusst, dass du heute ein anderes Leben führst als deine Vorfahren damals. Erkenne, dass das, was damals lebensgefährlich war, heute in den meisten Fällen nur noch unangenehm ist und sonst keine Konsequenzen hat. Ich weiß, das ist leichter gesagt, als getan.
Vor allem sehe ich immer wieder Menschen, die ihre Probleme und Themen bereits von vorn bis hinten verstanden haben, aus ihrem Verhalten und Gefühl aber trotzdem nicht aussteigen können. Verstehen reicht eben oft nicht aus für nachhaltige Veränderung. Es braucht ein neues Körpergefühl.
Genau deshalb verbinde ich in meiner Methode UNSTUCK Yourself alle drei Ebenen: Verstehen, Fühlen, Empfinden

Wenn du spürst oder weißt, dass bei dir ein transgenerationales Thema wartet, das du endlich lösen möchtest, alleine aber nicht weiterkommst, dann nutze gerne die Chance und lass uns gemeinsam schauen, ob ich die richtige Begleitung für dich bin. Dieses 30-minütige Gespräch ist kostenfrei. Bitte trag dich hier nur ein, wenn du wirklich den Willen und Wunsch hast, etwas für dich zu verändern! Ich freu mich auf dich!

Generose Sehr

Sängerin und Spezialistin für den emotionalen Deep Shit

Ich brenne dafür, Menschen dabei zu unterstützen ihren ureigenen Weg zu finden und echtes Selbst-Bewusst-Sein zu entwickeln – abseits von Gesellschaftsmustern, familiären Prägungen und „das macht man halt so“. Mein Herz schlägt für Visionär*innen und Menschen, die das Gefühl haben, in unserer Gesellschaft fehl am Platz zu sein.
Ich selbst bin Entwicklungsjunkie und süchtig nach neuem Wissen und neuen Erfahrungen. Das hat dazu geführt, dass ich nach meinem Studium in Gesangspädagogik noch eine Ausbildung in Craniosaraler Körperarbeit und den Epigenetik Coach angehängt habe und da stehen noch ein paar mehr Dinge auf meiner Liste.
Ich schreibe hier über transgenerationale Vererbung, frühkindliche und pränatale Prägungen und wie sich das auf unser Leben auswirkt. Außerdem erzähle ich gerne meine eigenen Geschichten (oder die meiner Klient*innen), um zu zeigen, wie wir den alltäglichen Herausforderungen des Lebens begegnen können.

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