Achtung! In diesem Blogartikel geht es um das Thema häusliche Gewalt. Bitte lies ihn nur, wenn du dir sicher bist, dass du damit gut umgehen kannst.

Anna hat sich im Rahmen meiner Blogparade bei mir gemeldet, weil sie selbst Betroffene eines absoluten Tabus in unserer Gesellschaft ist. Sie möchte das Tabuthema häusliche bzw. familiäre Gewalt gerne brechen, hat aber keinen eigenen Blog. Wir haben uns dafür entschieden, ihre Geschichte als Interview bei mir auf dem Blog zu veröffentlichen. 
In diesem Gespräch ging es um ihre persönlichen Erfahrungen und wann und wie sie draufgekommen ist, dass das, was da in ihrer Familie passiert, nicht “normal” ist. Außerdem sprechen wir über Vorurteile in Bezug auf das Thema häusliche Gewalt und wie jemand von außen hätte feststellen können, was in ihrer Familie wirklich los ist. 
Ich habe (in Absprache mit ihr) dafür gesorgt, dass diese Erzählungen nicht auf konkrete Personen oder Orte zurückzuführen sind. Im Zuge dessen haben wir auch ihren Namen geändert. 

Es war immer Krieg daheim

Generose: Liebe Anna, ich starte gleich voll rein. Meine erste Frage: Was hast du erlebt?

Anna: Zusammengefasst war eigentlich immer Krieg daheim. Meine Eltern haben einfach immer gestritten. Jetzt nicht immer offen, manchmal war es schwelend und im Untergrund, aber dann war die Frage, wann es wieder ausbricht.
Und wenn dann einmal gute Stimmung war, dann wussten wir: Ok, jetzt müssen wir schauen, dass es so bleibt und es genießen, dass grad alles passt.
Es war einfach sehr oft sehr heftig. Meine Schwester und ich sind auf verschiedenste Arten und Weisen da reingezogen worden. Ich hab mich schon als kleines Kind verantwortlich gefühlt und als die Erwachsene. Meine Eltern haben sich wie Kinder benommen und waren überhaupt nicht verantwortungsbewusst.
Ich kann mich an eine Situation erinnern, da war ich 4 Jahre alt. Ich hab meine Mutter angebettelt: “He, bitte kannst du mir versprechen, dass du dich nie trennen wirst?!” Sie hat das ständig angedroht. Und gleichzeitig hat mein Vater in den Raum gestellt, dass er sich umbringt, wenn sie sich trennt. Schon irgendwie heftig. 
Diese Ängste sind noch immer in mir drin. Ich schaffe es auch noch immer nicht, mir keine Sorgen mehr zu machen um meine Mutter. 

Man muss sagen, es ist nicht einseitig. Meine Mutter hat auch meinen Vater geschlagen. Aber sie hat halt weniger Kraft als er. Und darum war es für sie halt schlimmer als für ihn. Bei ihr waren es wirklich Verletzungen, wo sie dann auch im Krankenhaus war. Umgekehrt halt nicht. 

Generose: Also ist es tatsächlich auch regelmäßig zu Handgreiflichkeiten gekommen?

Anna: Jaja. Und da sind meine Schwester und ich oft dazwischen gegangen, weil wir verhindern wollten, dass wirklich was passiert. Es kann ja echt sehr schnell gehen. Ich hatte oft Angst, dass einer den anderen umbringt. Wir haben eine Treppe bei uns. Und wenn jemand den anderen schubst, das kann halt dann sehr schnell gehen. Und man muss dazu sagen, dass bei diesen heftigen Streits eigentlich fast immer Alkohol im Spiel war. 

Es war für mich immer so normal – und plötzlich war ich in der Krise

Generose: Krass. Das klingt auf jeden Fall danach, dass das nichts ist, was Kinder erleben sollten. Wir haben ja im Vorfeld schon ein bisschen geredet und du hast gesagt, du bist mit 22 draufgekommen, dass das nicht “normal” ist. Wie kam es dazu? Was war der Prozess, dass du die Idee hattest, dass das in anderen Familien nicht so ist?

Anna: Mit 22 hat eigentlich meine Krise begonnen. Ich hab plötzlich Suizidgedanken bekommen und hab das alles so nicht gekannt. So ganz aus dem Nichts heraus ist es mir richtig scheiße gegangen. Innerhalb von anderthalb Monaten war ich dann auf der Geschlossenen. Eh nur einen Tag, aber dann noch zwei Wochen auf der Psychiatrie. Und das war das erste Mal, dass ich mit jemand anderem, außer meiner Schwester, darüber geredet habe, dass meine Eltern viel gestritten haben. Und damals hab ich noch gesagt, dass sie viel gestritten haben und nicht mehr.
Ich hab damals schon gemerkt, dass das schon auch ein starker Grund für meine Krise sein könnte. Danach hab ich dann eine sehr intensive Therapie in einer Tagesklinik gemacht mit 11 anderen, die auch so in meinem Alter waren. Dort gabs die Möglichkeit für Familiengespräche, davon hatte ich dann zwei.
Und vor dem ersten Familiengespräch mit meinen Eltern und mit meiner Schwester ist mir dann vier Tage vorher eingefallen: Ahja, ich sollte vielleicht meinen Therapeuten erzählen, dass sich meine Eltern geschlagen haben.
Es war für mich immer so normal. Und da ist mir plötzlich aufgefallen, dass ich darüber vielleicht reden sollte.
Und auch mit Freunden hab ich davor nie darüber geredet. Es war nie so, dass meine Eltern gesagt haben, dass wir nicht drüber reden sollten, aber ich schätze, dass die Scham und ganz viele Gefühle das von mir aus schon verhindert haben. Deshalb hat es sehr lange gebraucht, bis ich mit irgendjemandem darüber geredet habe. 

Blaue Flecken vom Sport oder von zu Hause?

Generose: Hast du eine Idee, was du gebraucht hättest, um früher draufzukommen?

Anna: Hmm. In der Schule wird ja auch präventionsmäßig gegen die sexuelle Gewalt vorgegangen. So mit diesem Slogan “Was da unten passiert, ist deine Sache.”. 
Ich weiß es nicht, ob es was geholfen hätte. Ob ich das schon so bewusst gehabt hätte, mit 13. Aber ja, wenn das irgendwie in der Schule Thema gewesen wäre…

Vielleicht war es ja auch Thema in der Schule und ich hab es verdrängt und kann mich nicht dran erinnern. 

Und sonst war es ja auch echt schräg. Ich hab regelmäßig blaue Flecken gehabt. Aber halt vom Training. Und meine Eltern auch. Und die Schulärztin hat bei der Kontrolle immer gefragt: “Und, wo sind die jetzt wieder her?” Und ich hab halt immer gesagt: “Vom Sport.” Das hat ja auch fast immer gestimmt. Aber das hat es sicher auch nochmal verschleiert. 
Wahrscheinlich hat es das auch nicht gefördert, dass wir alle so viel Kontaktsport trainiert haben, weil es da einfach normal ist, dass man sich im Training hier und da gegenseitig weh tut und auch blaue Flecken bekommt. 

Generose: Aber es ist ja dann schon passiert, dass du auch, wenn es grade nicht gestimmt hat, gesagt hast, dass die blauen Flecken vom Sport sind, oder?

Anna: Mmh. Meine Mutter war jetzt nicht oft im Krankenhaus wegen Verletzungen von meinem Vater. Vielleicht ein oder zwei Mal. Und ich weiß, sie hat damals auch gesagt, dass es vom Training ist. 
Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, ob und wenn ja wie oft ich blaue Flecken von meinen Eltern hatte. Wenn ich dazwischen gegangen bin, dann hab ich natürlich ein bisschen was abbekommen, aber ob das dann wirklich blaue Flecken waren. Das weiß ich nicht mehr. Ich hab da nicht drauf geachtet. 

Heile Welt, gute Bildung – und trotzdem häusliche Gewalt

Generose: Als ich deine Geschichte gehört hab, hab ich gemerkt, dass ich häusliche Gewalt immer so einer bestimmten Bildungsschicht zugeordnet habe. Wie ich dich jetzt so erlebt habe und was ich von deinem Leben weiß, geh ich mal davon aus, dass es bei dir ein sehr gebildetes Umfeld ist? 

Anna: Ja, das macht es auch schwierig. Denn von außen gesehen, war immer heile Welt. Ja, tolle Familie und so. Meine beiden Eltern sind in einem sehr anspruchsvollen höheren Beruf, sind auch recht bekannt hier in der Stadt. Sie machen eine super Arbeit. Sie haben beide einen Doktortitel. 

Wer hätte etwas tun können?

Generose: Ja, das war für mich nochmal so ein Aha-Erlebnis im Vorfeld. Weil mir aufgefallen ist, dass ich auch durch eine Brille schaue und dass das Thema bei bestimmten Familien überhaupt nicht bei mir auf dem Schirm wäre. 
Was ich mich auch gefragt habe und was ich super spannend fände in Bezug auf Prävention: Gibt es aus deiner Erfahrung irgendwas, wie jemand von außen das hätte merken können?

Anna: Ja, klar, die Nachbarn. Meine Eltern waren immer sehr laut, wenn sie gestritten haben. Ich schätze, dass unsere Nachbarn schon Sachen mitbekommen haben. Das muss so sein. Aber sie haben halt auch nichts gemacht. 
Ich hab jetzt wieder an die Schule gedacht, an die Lehrer oder so. Aber ich muss ja sagen: wirklich schlecht gegangen ist es mir ja erst nach ein paar Jahren auf der Uni dann. In der Schule hab ich es nicht nach außen gezeigt. Ja, schwierig. 

Generose: Ja, es ist total schwierig. Die Frage ist für mich halt: welche Sensibilisierung muss stattfinden, dass sowas früher erkannt werden kann. Dass man von außen überhaupt eine Chance hat, etwas zu erkennen oder zu ahnen. 

Anna: Ich hab auch ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Oma, aber ich würde es nicht übers Herz bringen, ihr davon zu erzählen. Ich schätze, sie spürt schon, dass da irgendwas nicht in Ordnung ist, aber sie ahnt nicht, was da alles vorgefallen ist. Irgendwo ist es schon spürbar, aber man kann es halt nicht wissen. Aber vielleicht wirklich in Schulen. 

Familiendynamik und emotionale Verstrickungen

Generose: Wahrscheinlich müsste man schon im Kindergarten anfangen. 

Anna: Ja, aber ich frag mich grade, ob es mir was gebracht hätte, wenn das in der Schule Thema gewesen wäre. Weil ich mich bis vor drei Jahren vor allem mit meinem Vater emotional identifiziert habe. In den allermeisten Fällen hat meine Mutter die Streitigkeiten vom Zaun gebrochen und ich war dann auf seiner Seite. Ich hab ihn dann auch irgendwie verteidigt. Ich war so arg verwickelt – und bin es immer noch, aber zum Glück weniger als früher.
Und man muss auch sagen: Meine Mutter hat sich so oft so ekelhaft verhalten, dass ich meinen Vater gut verstehen konnte. Ich schätze mal, dass die Kinder da oft so stark in diese Dynamiken verwickelt sind, dass es wirklich schwierig ist, da von außen was zu machen. 

Man muss anfangen, darüber zu reden!

Generose: Was ist denn dein Wunsch? Warum sprichst du jetzt offen drüber?

Anna: Deine Offensive, die Tabuthemen an die Oberfläche zu holen, hat mich voll angesprochen. Ich weiß inzwischen in meinem Freundeskreis von einigen Familien, bei denen es ähnlich war. Trotzdem haben sie mit mir erst darüber geredet, als ich mit ihnen geredet hab. 
Es war bei vielen Themen so. Das zeigt mir, dass es viel verbreiteter ist, als man meint. Und man muss anfangen, darüber zu reden. Und du hast in einem deiner Artikel einen Absatz über Tabuthemen und da steht drin: weil man nicht darüber redet, müssen die Betroffenen alleine damit zurechtkommen. 
Und ja, das ist tatsächlich so. Wenn mich jetzt grad ein Thema beschäftigt und ich deshalb zum Beispiel Trauer durchlebe, kann ich das ja fast niemandem erzählen. 

Generose: Ja, das ist auch meine Erfahrung. Ich hab damals auch angefangen, über ein Tabuthema zu reden und daraufhin haben sich zig Frauen geöffnet und ihre Geschichte erzählt, die sie zum Teil noch nie erzählt haben. 

Wichtige Hinweise zum Schluss

Generose: Gibt es noch irgendwas, was du gerne noch dazu ergänzen magst, was dir wichtig ist?

Anna: Ja, mir ist sehr wichtig, dass man nicht nur das Klischee im Kopf hat, dass nur Männer Täter sind. Frauen haben halt in der Regel weniger Kraft und deshalb hat es weniger Auswirkungen, aber das darf man nicht so einseitig sehen. 

Und was mir noch wichtig ist: Für mich war neben der körperlichen Gewalt vor allem die psychische Gewalt richtig schlimm. Man muss beim Thema häusliche Gewalt auch Beleidigungen, Drohungen und Erpressung im Kopf haben. Gewisse beleidigende Aussagen meiner Eltern mir gegenüber, die ich von klein an tausende Male gehört habe, haben einen sehr großen Anteil daran, dass ich mir mit Selbstliebe schwer tue.

Generose: Liebe Anna. Vielen lieben Dank dir für deinen Mut und deine Offenheit. Ich wünsche mir sehr, dass dieser Artikel und deine Geschichte dazu beiträgt, dieses Thema in unserer Gesellschaft mehr an die Oberfläche zu holen und vor allem die Betroffenen dabei unterstützt, sich schneller Hilfe zu suchen. 

Anna: Danke für die Möglichkeit!

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