Dieser Blogartikel entstand im Rahmen meiner Blogparade „TABU-Talk: Über dieses Thema möchte ich endlich offen reden!“ Weil nicht alle Menschen, die ein Tabu brechen möchten, einen eigenen Blog haben, traf ich die Entscheidung, ein Interview-Format in diesen Blogparaden-August zu integrieren. Hier spreche ich mit Katrin.

Isoliert und überfordert als Angehörige

Liebe Katrin, wie schön, dass du mit mir über dein Tabu-Thema sprechen möchtest. Was ist dein Thema? Und falls es für dich passt: Was sind deine eigenen Erfahrungen damit?

Moin Generose, vielen lieben Dank für die Möglichkeit, auch ohne eigenen Blog dabei zu sein. Ich möchte darüber sprechen, wie es ist, wenn ein Familienmitglied an einer Depression erkrankt – also darüber, Angehörige zu sein. Meine eigenen Erfahrungen als Angehörige haben mich selbst an den Rand der Überlastung gebracht, denn ich kannte niemanden in einer ähnlichen Situation, der oder die meine Belastungen und Gefühle wirklich nachvollziehen konnte. Ich habe mich lange Zeit isoliert und überfordert gefühlt.

Oberste Priorität: Funktionieren – bis die Reserven aufgebraucht waren

Kannst du diese Belastung und Gefühle in dieser Situation beschreiben? (Wenn dir eine Frage zu weit geht, dann sag es gerne.)

Die Belastungen als Angehörige kamen für mich von mehreren Seiten. 
Ein Teil der Belastung war von mir selbst gemacht. Ich habe ganz selbstverständlich versucht, alles in unserem Alltag aufzufangen, wozu mein Mann nicht mehr in der Lage war: angefangen beim Haushalt bis hin zum gesamten Mental Load.

Außerdem habe ich ständig versucht, zusätzliche Belastungen von ihm fernzuhalten, weil ich davon ausgegangen bin, dass es ihm dadurch noch schlechter gehen würde. So war ich in einem ständigen Alarmmodus, um potentielle Belastungen abzuwehren. Heute würde ich anders handeln, denn rückblickend habe ich mit meinem Verhalten bei meinem Partner das Gefühl verstärkt, überflüssig zu sein und ihm ungefragt die Fähigkeit abgesprochen, Dinge selber zu regeln.

Gefühlt habe ich in dieser akuten Zeit kaum etwas. Ich habe sehr “erfolgreich” all die Gefühle, die ich nicht ertragen konnte oder so unendlich anstrengend waren, unterdrückt. Es ging tatsächlich so weit, dass ich den Zugang zu meinen Gefühlen ein Stück weit verloren habe: Ich konnte eine Zeit lang nicht mehr weinen. (Die Gründe dafür sind sicherlich komplex, weil sie damit zusammenhängen, welchen Umgang mit Emotionen ich erlernt habe.)

Ich habe durchweg funktioniert, auch wenn ich mit Vertrauten gesprochen habe, waren es immer nüchterne Gespräche. Meine Emotionen waren wie umgeben von einer Schutzhülle aus Sachlichkeit. Erst als ich meine Reserven aufgebraucht hatte, total gereizt und vor allem körperlich fertig war, habe ich damit begonnen (und mir erlaubt), mich ganz langsam mit mir selbst zu beschäftigen. In einer Beratung, die ich eigentlich gebucht hatte, um herauszufinden, was ich beruflich ändern möchte, habe ich mich mit Fragen beschäftigt, wie “Wer bin ich?”, “Was macht mich aus?”, …  So habe ich in einer Beratung ein stärkendes, positives Bild von mir entwickeln können, das mehr war als “funktionieren”.
Über diesen Umweg sind auch all die unterdrückten Gefühle wieder ans Licht gekommen: Trauer, Wut, Angst, Sorgen, Überforderung, Frustration. 

Schweigen – aus Angst vor Abwertung

Was, glaubst du, hat dazu geführt, dass du mit anderen Menschen nicht über deine bzw. eure Situation gesprochen hast?

Die Situation ist bereits einige Jahre her. Damals kannte ich niemanden, der oder die direkt mit psychischen Erkrankungen zu tun hatte. Mir fehlte ein Vorbild. Wenn über Psyche gesprochen wurde, dann eher in Form von Gossip (“Hast du schon gehört…”) und oft abwertend: Da ging jemand zum Irrenarzt, nicht zum Therapeuten. Das schürte die Sorge in mir, ebenfalls abgewertet zu werden. Hinzu kam auch, dass ich ja “nur” Angehörige war. Ich wollte es mir nicht herausnehmen, über das persönliche Thema einer anderen Person zu erzählen und womöglich mehr zu berichten, als meinem Mann lieb war. 

Zusätzlich habe ich lange meine eigene, belastende Situation nicht anerkannt. Ich habe mir einerseits nicht zugestanden, dass es mir durch meine Rolle schlecht ging. Andererseits hatte ich Angst, dass mich meine Gefühle in einem Gespräch überrollen könnten und ich sie dann nicht mehr im Griff hätte. 

Verantwortung für die eigenen Kapazitäten übernehmen

Was ist denn aus deiner Sicht ein gesunder Umgang mit so einer Situation als Angehörige? Macht es da einen Unterschied, ob sich der oder die Betroffene selbst Hilfe holt oder nicht?

Ein “gesunder Umgang” bedeutet aus meiner Sicht, die Verantwortung für die eigenen Kapazitäten zu übernehmen. Das heißt, dass wir Angehörigen selber dafür sorgen, genügend Pausen zu machen, um uns zu regenerieren. Oder Grenzen zu setzen, wenn uns eine Situation nicht mehr gut tut. Uns trotz Depression “im Haus” Freude zu erlauben, …. 
Die Themen sind wahrscheinlich so individuell wie die Situationen der Angehörigen.

Ob sich der oder die Erkrankte selbst Hilfe holt, macht für mich keinen direkten Unterschied (auch nicht ob eine Diagnose besteht oder “nur” ein Verdacht), denn die Verantwortung für unser Wohlergehen haben wir unabhängig davon. Wenn es uns Angehörigen schlecht geht, sollten wir handeln. Besser eigentlich noch bevor es uns schlecht geht. Zusätzlich können Angehörige, die sich um sich kümmern und Unterstützung annehmen, auch eine Vorbildrolle für Depressionserkrankte einnehmen und zum Beispiel zeigen, wie hilfreich es sein kann, nicht mehr alleine mit der Last der Erkrankung zu sein.

Zu einem gesunden Umgang gehört auch, mit anderen Menschen über die eigene belastende Situation und die damit verbundenen Ängste zu reden, um nicht alles alleine zu tragen und uns zu isolieren.
Sicherlich wird es einige Menschen geben, die bereits in ihrer Vergangenheit gelernt haben, auf die eigenen Kapazitäten zu achten oder sich aktiv Hilfe zu organisieren. 
Für diejenigen, die, wie ich, erst durch die Angehörigen-Rolle lernen müssen, wie sie gesund mit den Belastungen, Sorgen und Gefühlen umgehen können, ist es auf jeden Fall hilfreich, sich Unterstützung zu holen. Dabei kann Unterstützung beginnen bei einer Person, die zuhört (Freunde, Selbsthilfegruppe, Hotline), über Entlastung beim Haushalt gehen bis hin zur eigenen Therapie (sofern der Bedarf besteht).

Der Schritt zu dieser Unterstützung erfordert oft Mut, weil psychische Erkrankungen und angehörig-sein immer noch Tabu-Themen sind. 

Angst, nicht mehr zur Gesellschaft zu gehören

Welche Auswirkungen hat es denn, dass diese Themen in unserer Gesellschaft ein TABU sind und was braucht es, sie aus dieser Tabu-Ecke zu holen?

Tabu-Themen sind Themen, über die wir nicht reden oder die nicht da sein “dürfen”. Es sind ungeschriebene Regeln in unserer Gesellschaft. Wenn wir dann aber ein Tabu-Thema in unserem Leben entdecken, haben wir Angst, nicht mehr zur Gesellschaft zu gehören und uns nicht an diese ungeschriebenen Regeln zu halten. Vielleicht schämen wir uns auch und fühlen uns allein, weil wir niemand anderen mit ähnlichen Herausforderungen kennen.

Für Angehörige und Betroffene von psychischen Erkrankungen heißt das, dass Erkrankungen unbehandelt bleiben, weil sich Erkrankte nicht zu Therapeuten trauen. Dass es zwar tolle Hilfsangebote auch für Angehörige gibt, aber die Angst gesehen und verurteilt zu werden, so groß ist, dass viele Angehörige doch mit den eigenen Sorgen alleine bleiben.

Laut der Deutschen Depressionshilfe leiden pro Jahr etwa 5 Millionen Menschen in Deutschland an einer Depression (in Österreich sind es ca. 730.000, Quelle: Medizinische Universität Wien). All diese Erkrankten haben Angehörige, die ebenfalls unter den Auswirkungen der Krankheit leiden. Wir sind Millionen und trotzdem spricht im Alltag kaum jemand darüber.
Genau das ist, meiner Meinung nach, der wichtige Hebel, um Depression, angehörig-sein und andere psychische Erkrankungen aus der Tabu-Ecke zu holen: Reden!

Aufklärung fängt ganz klein im Alltag an

Ich wünsche mir, dass wir so lange und so viel über dieses Tabu-Thema sprechen bis wir daran gewöhnt sind und es ganz normal für uns ist. Das kann in Form von Aufklärungsarbeit in den Medien, an Schulen und auf der Arbeit geschehen. Aber auch ganz klein im Alltag von uns allen. 

Ich mag den Vergleich mit einem Bandscheibenvorfall. Wenn jemand aus unserer Familie einen Bandscheibenvorfall erleidet, sprechen wir darüber, welche Auswirkungen dies auf unseren Alltag hat. Wir würden nicht versuchen, dies zu verstecken, damit nach außen alles leicht aussieht. Vielleicht kennt unsere Gesprächspartnerin sogar einen guten Physiotherapeuten.

So ähnlich könnte es doch auch laufen, wenn jemand aus unserer Familie an Depression erkrankt ist. Andere könnten unsere Belastungen im Gespräch nachvollziehen und uns vielleicht sogar einen guten Rat geben. Das geht nunmal nur, wenn wir es Stück für Stück schaffen, offener über psychische Gesundheit zu sprechen. Vielleicht zuerst bei einer vertrauten Person, dann bei der nächsten und wenn du etwas geübter und mutiger geworden bist, wird es dir auch immer leichter fallen, über deine Rolle als Angehörige zu sprechen.

Liebe Katrin, das ist ein sehr starkes Statement und ich glaube, das ist ein guter Punkt, um unser Interview hier zu beenden. Vielen Dank dir für deine Offenheit und dass du dich so für dieses Thema einsetzt! 

Ein Foto von einer Frau in der Natur. Katrin Dryhaus ist Beraterin für Angehörige von Menschen, die an Depression oder Dysthymie erkrankt sind.

Katrin Dryhaus ist psychologische Beraterin für Angehörige von Menschen, die an Depression oder Dysthymie erkrankt sind. Dadurch dass sie eben nicht nur diverse Ausbildungen absolviert hat, sondern selbst in der Situation ihrer Klient:innen war, kann sie heute Menschen besonders mitfühlend und unterstützend begleiten.
Sie arbeitet sowohl im 1:1 als auch in der Gruppe. Schau gerne auf ihrer Seite vorbei und vereinbar dir ein Kennenlernen mit ihr. https://www.katrin-dryhaus.de/

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